Vision für das Bildungssystem in Afrika

Einführung

Die Suche nach Visionen und Alternativen für das Bildungssystem findet nicht nur in Afrika, sondern weltweit statt. Jeder ahnt, dass in unseren Kindern mehr Potenziale schlummern, als wir bislang durch Erziehung und Bildung in Familie und Schule zu wecken und zu fördern in der Lage sind. Oft staunen wir über die flinke Auffassungsgabe unserer Kinder. Wir würden ihnen ja gerne auf ihrem Weg weiterhelfen, aber wissen nicht wie. Eltern haben nur begrenzte Möglichkeiten und die Schule kann sich nicht um jedes einzelne Kind kümmern. Es fehlt ein Dienstleistungsangebot, welches diesen dringenden Bedarf abdeckt.

Dazu hatte ich in der Côte d'Ivoire 1973 eine Vision und arbeite seitdem an deren Verwirklichung. Nachdem die Idee bereits anfing, in der Côte d'Ivoire erste Früchte zu tragen hat ein inzwischen größerer Kreis von Interessenten, 1986 dazu das "Internationale Institut zur Entwicklungsförderung der Jugend e.V." kurz: EDEJU, gegründet. Aus der Vision kristallisierte sich das Konzept "Interkulturelles Selbst-Lern-Netz", kurz: INSEL-Netz, heraus.

Afrikanische Kinder mit selbst gebautem Lastwagen.

Ausgangssituation waren Kinder, die ihre Umwelt spielerisch nachahmten. Sie bastelten sich aus Abfällen zum Beispiel Lastwagen, die den Transport von Früchten der Ölpalme zur Fabrik übernahmen. Ebenso tauschten sie untereinander das technische Know-how, d.h. das Herstellungsverfahren der Transportmittel und den Sinn dieses logistischen Speditionswesens aus. Sie ahmten in selbstentwickelten Rollenspielen die Welt der Erwachsenen nach. Auf diese Weise bereiteten sie sich instinktiv und spielerisch auf das reale Leben nach dem Motto "früh übt sich, wer ein Meister werden will" vor.

Die ersten Keimlinge der sich entwickelnden Potenziale beispielsweise von Technikern und Ingenieuren zeigten sich bereits im Spiel. Jedoch besteht das Problem darin, dass die Eltern nicht in der Lage sind, die vielfältigen erstaunenswerten Aktivitäten der Kinder als Keimlinge zu interpretieren und systematisch zu fördern.

Ab dem Schuleintritt richtet sich das Augenmerk sowieso nur noch auf die schulischen Leistungen. Die spielerisch begonnenen Aktivitäten werden nicht weiterentwickelt, so dass die individuellen lebensrelevanten Anlagen verkümmern.

Die Frage wird laut: Wie kann eine ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit realisiert werden?

1 Einige Überlegungen zum Thema Bildung

Bevor wir uns Gedanken über das INSEL-Netz machen, möchte ich mit Ihnen über die Frage "was ist Bildung?" nachdenken. Diese Frage führt uns sehr schnell in den Bereich der Philosophie und der dazugehörigen Menschen- und Weltbilder. Die Beantwortung dieser Frage, will man sie allgemein, d.h.für die gesamte Menschheit beantworten, setzt eine distanzierte Haltung voraus. Einen Standpunkt, der sich außerhalb aller bisher gefundenen Antworten auf diese Frage befindet. Man muß also in der Lage sein, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und Umdenkprozesse zu riskieren. Dazu möchte ich sie ermutigen.

Nicht Konformisten, sondern Querdenker haben die Welt verändert.

1.1 Was ist Bildung?

Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Bildungshoheit beim Staat liegt. In Deutschland obliegt sie den einzelnen Bundesländern. Diese müssen sich ein Bild über den per Bildung zu schaffenden Menschen machen und bestimmte Normen festlegen. Dann müssen sie die Kinder verpflichten, sich diesem genormten Bildungsprozess in dem dazu geschaffenen System, genannt Schule, zu unterziehen. Hierzu ist ein hoher Personal- und Kapitalaufwand erforderlich.

Ich möchte diesen inzwischen weltweit verbreiteten Konsens in Frage stellen. Ausgehend vom Bilderverbot in diversen Religionen, erscheint es mir interessant, sich auch über ein "Bildungsverbot" Gedanken zu machen. Warum?

In jedem Menschen verbirgt sich eine individuelle Persönlichkeit. Ein Original, welches sich entfalten will. Das Bild dieses Originals ist selbst der eigenen Person verborgen. Das Bild ist kein totes, sondern ein lebendiges Bild. Der natürliche Bildungsprozess einer Blüte beginnt verborgen in einer Knospe. Er ist geheimnisvoll, weil man die entstehende Blüte nicht kennt. Wenn man dieses Mysterium mit der Würde des Menschen identifiziert, ist es etwas Heiliges, welches man nicht manipulieren darf, da es sehr subtil und verletzlich ist.

Die ideale Beziehung zu diesem verborgenen Bild und dem Entfaltungsprozess, kann nur ein Liebesverhältnis sein. Niemals etwa eine Zwangsmaßnahme. Es erfordert Einfühlungsvermögen, Animationskompetenz und ein Wissen über die Vielfalt und Bedingungen der Entfaltungsmöglichkeiten individueller Potenziale. Dies haben auch die Verfasser unseres Grundgesetzes so verstanden und im Artikel 2.1 "das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit" definiert.

Somit kann die Bildungshoheit nicht außerhalb der sich entwickelnden Person liegen. Sie liegt also beim Einzelnen selbst. Niemand hat somit das Recht, sich ein Bild eines Anderen zu machen, und ihn nach diesem selbstgemachten Bild zu bilden. Bildung ist ein individueller Prozess, bei dem die Gesellschaft allerdings die Aufgabe hat, Bedingungen zu schaffen, damit sich die Persönlichkeit des Einzelnen fröhlich, frei und voll entfalten kann. Leider lassen unsere Gewohnheiten solche Gedanken im Alltag kaum zu. Wir sehen die Normen und Bedingungen, die sich in unserer Gesellschaft etabliert haben und passen uns diesen notgedrungen an. Wir sind angewiesen auf Institutionen, die uns die Arbeit der Erziehung und Betreuung unserer Kinder abnehmen. Diese Einrichtungen möchte ich etwas unter die Lupe nehmen:

1.2 Der Kindergarten

Von seiner Herkunft her war der Kindergarten in schweren Zeiten bestimmt ein Segen. Ein Schutzraum für Kinder, die ansonsten der Verwahrlosung anheim gefallen wären. Aber heute, in einer Zeit des dynamischen Fortschritts, stellen sich neue Fragen: Das Reservoir der verborgenen individuellen Potenziale des einzelnen Menschen wird dringend gebraucht. Fleiß und Unterordnung sind nicht mehr gefragt. Offenheit, Unternehmergeist und Kreativität, Problemlösungskompetenz, Risikobereitschaft und Selbstverantwortung werden gebraucht. All das sind Fähigkeiten, mit denen die Kinder auf die Welt gekommen sind, welche ihnen aber aberzogen werden, weil sie in das alte Menschen- und Weltbild nicht passen. Früh werden die entscheidenden Weichen gestellt. Werden sie nicht umgestellt, geraten wir in Richtungen, die wir heute nicht wollen. Der Kindergarten ist solch eine entscheidende Weiche im Leben eines Kindes.

Es ist eine Anstalt, die den Kindern, um sie zu schützen, kaum Einblick ins "böse und gefährliche" reale Leben gewährt, obwohl das reale Leben der "Raum" ist, den die Kinder eines Tages beherrschen und gestalten sollen. Die Welt bleibt den Kindern von nun an verborgen. Von fremden Kulturen ganz zu schweigen. Die Kindergärtnerinnen können diesen Defizit nicht ausgleichen.

Zwar macht der Begriff Frühförderung zur Zeit die Runde, aber man denkt dabei im wesentlichen an den Erwerb der sogenannten Kulturtechniken. Auch das Forum Bildung (siehe unten) hat zwar die elementare Bedeutung der Frühförderung erkannt, aber es ist zu befürchten, dass durch die Resultate der PISA-Studie der Kindergarten zur Vorschule umgestaltet wird.

1.3 Die Schule

Satire aus der Deutschen Lehrerzeitung.

Wer den Ursprung der Schule kennt, denn das klassische Bildungssystem geht auf Karl den Großen zurück, müsste skeptisch werden: Sie diente zur Berufsausbildung von staatlichen Administratoren. Viel später, im 19. Jahrhundert wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Sollte von nun an etwa jeder Administrator werden? Vielleicht hat man damals die Relevanz der sog. Kulturtechniken überschätzt und auf Kosten anderer Qualifikationen vermittelt und standardisiert. Die Förderung der Lebenstüchtigkeit und die berufliche Qualifikation fand nun viel später statt. Heute spricht man in Studentenkreisen vom Eintritt ins Leben mit ca. 29.

Kinder und Jugendliche, sowie die Kulturen die dieses System übernommen haben, leiden unter dem lebensfremden und retardierenden Bildungskonzept. Etwas überspitzt formuliert: "Was man lernt, das braucht man nicht, was man braucht, das lernt man nicht".

Nach dem oben entwickelten Bildungsbegriff erscheint es mir aus mehreren Gründen somit fraglich, ob das System Schule eine sinnvolle Bildung ermöglicht. Denn aus diesem System werden betreuungssüchtige Menschen entlassen, die nun von weiteren pädagogischen Betreuungsmaßnahmen abhängig sind.

Dies liegt u.a. an folgenden Faktoren:

Diese lebensfremde Verschulung gepaart mit der Unterdrückung der natürlichen Neugier, Lebendigkeit, Kreativität und des Unternehmergeistes, hinterlässt Spuren, die kaum zu revidieren sind. Individuelle Freiheit würde das System, welches auf Homogenität und Anpassung angelegt ist, sprengen.

Fatal ist, was ich das "Katzenfuttersyndrom" nenne: Unsere Katze hat nicht gelernt, sich selbst zu ernähren, da sie immer ihr Katzenfutter bekommt. Kindern wird durch die ständige pädagogische Fürsorge der natürliche Jagdinstinkt auf Neues und Interessantes abgewöhnt.

Diese Verhältnisse sind allen, die sich ernsthaft mit dem Thema Bildung beschäftigen, bekannt. Immer häufiger hört man Forderungen nach Verbesserung des Systems. Nicht nur zum Wohle des Einzelnen, sondern auch zum Wohle unserer Gesellschaften, also global.

1.3 Umdenkprozesse

Neben unzähligen populären und verborgenen Versuchen in der Vergangenheit, Reformen zu initiieren, sind in den letzten Jahren verstärkt Umdenkungsprozesse im Ursprungsland von Kindergarten und Schule angestrengt worden. Bislang aber fehlt es an einer zündenden Vision. Manchmal kommt es mir so vor, als wollten Bildungsexperten, d.h. erfahrene Pferdezüchter, aus dem Bildungsgaul einen Bildungsporsche machen. Dazu aber braucht es Ingenieure.

Deutschlands Bundesbildungsministerin Edelgart Bulmahn sprach 1999 in Stuttgart bei der Eröffnung der Bildungsmesse von der Notwendigkeit einer neuen Bildungskultur. Dazu hat sie das Forum Bildung initiiert und einen 2-jährigen Konsultationsprozess durchführen lassen. Die Resultate des Konsultationsprozesses wurden im Januar dieses Jahres (2002) in Berlin präsentiert. Etwa zur gleichen Zeit wurden die Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht. Die Medien schlachteten diese Fakten aus, so dass die Öffentlichkeit durch die "schockierenden" PISA-Befunde in den Bann gezogen wurde. Schade um die wesentlich interessanteren Ergebnisse des Forum Bildung, durch die ein ganzheitlicherer Blick auf die zu entwickelnden humanen Potenziale gerichtet wird. Erfreulich ist auch die Renaissance der alten Autodidaktik, die mit modischen Begriffen wie Selbstqualifikation, informelles Lernen etc. wieder an Relevanz gewinnt. Leider wurde aber das Thema der spielerischen Selbst-Lernens, welches der erste und wichtigste Schritt und die Grundlage des lebenslangen selbständigen Lernens ist, nicht aufgegriffen.

Die Ergebnisse sind bemerkenswert, jedoch erscheint mir die systematische Umsetzung in den althergebrachten Bildungsstrukturen unmöglich. Denn solange sich die Diskussionen bezüglich der Verbesserung des Bildungssystems nur um den schulischen Kontext drehen, versperren wir uns die notwendige Offenheit, um zu neuen und wirkungsvolleren Systemen zu gelangen.

Die baden-württembergischen Bischöfe der evangelischen und katholischen Kirche widmeten am 28.2.02 in Stuttgart durch die Veröffentlichung des Papiers "Bildungsforum Kirche" in Vorbereitung auf den Bildungskongress am 28. und 29. April 2002 in Ulm, ihr Augenmerk der Selbstbildung des Menschen und plädieren sogar dafür, dass Nichtplanbares und Unverfügbares Raum behalten soll und nicht marginalisiert werden darf. Leider werden auch diese Stimmen wieder verhallen und von den Schulpraktikern, als Floskeln abgetan werden.

Die 11. Kinder- und Jugendstudie 2002 des Bundesjugendministeriums fordert: "Junge Menschen müssen sich Grundkenntnisse und Grunderfahrungen zur Selbstregulierung aneignen, um das eigene Leben bewältigen und aktiv gestalten zu können". Wir müssen in der Lage sein, die Frage nach Bildung offen zu stellen. Das alte System Schule mag für bestimmte Lerninhalte geeignet sein, aber der Ort für den Erwerb der lebenstüchtigen Lebenskunst kann nur das reale vielfältige Leben selber sein.

Die einzige Verbesserung dieses Systems besteht in einer drastischen Abmagerungskur, um anderen Systemen, die geeignet sind individuell und "just in time" zu fördern, Platz zu machen. Der Reformdruck ist bereits übergroß mit tagtäglich steigender Tendenz. Belässt man diesen in der Schule, wird dieses System unweigerlich eines Tages explodieren. Es kracht bereits gehörig.

Ich möchte kurz noch einige Stimmen aus Afrika einbringen, ein Kontinent, der unser System nicht ganz freiwillig übernahm, heute aber darauf all seine Hoffnungen setzt, zumal die UNESCO mit Nachdruck ihren Fokus auf die schulische Bildung richtet:

Die kamerunische Professorin Axelle Kabou stellt in ihrem Buch "Weder arm noch ohnmächtig" (Originaltitel: Et si l'Afrique refusait le développement) die natürliche Kreativität der Kinder im Spiel fest, die, sobald sie aber die Schule besuchen, sie zu Wiederkäuern degradiert werden.

Wir gehen beide, Axel Kabou und ich, der Frage nach, warum die Afrikaner ihre Probleme nicht selbst lösen. Unsere gemeinsame Antwort ist, dass es die systematische Unterdrückung der frühen Entfaltung individueller Potenziale durch traditionelle Erziehungswerte ist, die sich u.a. im Schulsystem und den religiösen Praktiken fortsetzen.

Professor Ki Zerbo aus Burkina-Faso stellte 1989 in einem Artikel der ivorischen Zeitung "Fraternité Matin" fest, dass die afrikanischen Gesellschaften, trotz des Schulbesuchs über inzwischen mehrere Generationen, nicht den erhofften Entwicklungsschub erfahren haben, sondern eher noch weiter verarmt sind.

Wie soll denn Bildung anders gestaltet werden?

2 Bildung im realen Leben

Es gibt genügend gelungene Beispiele lebenstüchtiger Lebenskünstler in Afrika und Europa, die im realen Leben groß und erfolgreich geworden sind. Können wir von ihnen lernen? Gibt es Gemeinsamkeiten, die man systematisieren kann?

2.1 Beispiel Landwirtschaft

In der Landwirtschaft war der Nachwuchs in eine kompetenz- und generationsübergreifende Gemeinschaft integriert. Jeder konnte sich durch einen lebensnahen und kontinuierlichen Bildungsprozess, der von der spielerischen zur professionellen Teilnahme reichte, die relevanten Kompetenzen aneignen. Spiele und selbstgefertigte oder gekaufte Spielmittel dienten dazu, Kindern die Möglichkeit zu geben, die Welt der Erwachsenen zu imitieren. Schrittweise übernahmen sie immer verantwortungsvollere Tätigkeiten, bis sie eines Tages selber Landwirt waren.

Fazit: Wenn man in einem bestimmten Lebensbereich groß wird, braucht man keine weitere Bildungseinrichtung. Wechselt man die Lebensbereiche, hat man die Möglichkeit, sich vielfältig zu qualifizieren. Wir, die Erwachsenen, haben es verlernt, uns um die Förderung unseres Nachwuchses selber zu kümmern. Die Erwachsenenwelt ist nicht mehr auf Kinder und Jugendliche eingestellt. Wir glaubten, dass es ausreiche, die Kinder den dafür vorgesehenen Institutionen zu überlassen. Wir müssen umdenken, und vom Beispiel der Landwirtschaft lernen.

2.2 Beispiel: Urbanes populäres Kleingewerbe in Afrika

Dieses Kleingewerbe besitzt eine elementare Wirtschaftskraft. Die Dynamik, der Erfinder- und Unternehmergeist, das Improvisationsvermögen, die Problemlösungskompetenz, die hohe Frustrationstoleranz und die Solidarität bewirken alltäglich Wunder der Überlebenstüchtigkeit und Lebenskunst. Die notwendigen Kompetenzen erwerben sich die Kinder der Kleinunternehmer, sofern sie in diesem Milieu aufwachsen, spielerisch und durch die frühe verantwortungsvolle Teilnahme. Die alltäglichen Herausforderungen, denen die Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt auf der Straße verdienen müssen begegnen, wecken und fördern erstaunliche Potenziale.

Der Ivorer Professor Abdou Touré beschreibt diese Methode in seinem Buch "Auf der Straße liegt die Phantasie" (Originaltitel: Les petits métiers d'Abidjan).

Fazit: Kinder und Jugendliche, die diese Lebensweise gewöhnt sind, kennen die Realität des Lebens und erwerben eine erstaunliche Lebenstüchtigkeit.

2.3 Die Bildungsrelevanz des kindlichen Spiels

Wir haben festgestellt, dass das Spiel im Bildungsprozess eine wesentliche Rolle spielt. Nicht nur Menschen, sondern auch junge Tiere entwickeln spielerisch ihre körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte. Das schließt auf eine Erfindung der Natur, die nicht gering geschätzt werden darf, sondern gefördert werden muss. In unserer Gesellschaft genießt das Spiel des Kindes noch einen hohen Stellenwert. Zum Glück beobachten Eltern, Verwandte und Freunde die aufkeimenden Potenziale der Kinder, und schenken Spiel- und Hobbymittel, um die individuellen Interessen zu fördern. Das Spektrum solcher Selbst-Lern-Mittel ist immens. Diese unterliegen aber starken Modeerscheinungen, so dass, wenn man sich keine besonderen Gedanken darüber macht, einseitig gefördert wird.

Die unermessliche Palette guten pädagogisch wertvollen Spielzeugs, welches den Kindern die Möglichkeit bietet, die Welt der Erwachsenen in allen Schattierungen nachzuvollziehen, entwickelt sich tagtäglich weiter. "Just in time" und "up to date" erscheinen die neuesten Entwicklungen in Form von Spielzeug in den Spielwarenläden. Diese sind der Nährboden und die Grundlagen für viele passionierte und kreative Fachleute, Ingenieure, Forscher und Erfinder. Bei der Begegnung mit Menschen, die außergewöhnlich innovativ und engagiert sind, reichen die Wurzeln ihrer Kompetenzen immer bis in die frühe Kindheit hinein.

Die Spielwarenmesse in Nürnberg, die die weltweit größte Messe dieser Art ist, ist daher die eigentliche (Selbst-)Bildungsmesse. Das gleiche gilt für Hobbymessen die Materialien für die weiterführenden Selbst-Lern-Schritte präsentieren. All diese Messen werden vom Publikum überrannt, während die Bildungsmesse nur von Lehrern besucht wird. Eltern, Kinder und Jugendliche sind dort nicht zu finden.

Am Beispiel der Beherrschung der neuen Medien ist dies heute jedem klar: Spielerisch erwerben sich die Kinder erstaunliche Qualifikationen durch den unbefangenen explorierenden Umgang mit dem Computer. In der Schule haben viele Lehrer ein immer noch distanziertes Verhältnis zu diesen inzwischen längst in den Alltag integrierten Techniken.

Fazit: Die spielerische Herangehensweise an neu zu erlernende Fähigkeiten ist die natürlichste und die effektivste. Nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Spielerisches Lernen ist universell einsetzbar. Afrika muss dieser Methode mehr Relevanz einräumen.

Bei allem Reformdruck und dem Bedarf nach Neuerungen, sollte man den Blick in Richtung altbewährter Phänomene nicht verlieren. Einzeln betrachtet erscheinen sie vielleicht unbedeutend. Fügt man sie jedoch zu einem neuen System zusammen, bringen sie ihre elementaren Potenziale zur Wirkung.

3 Die Vision: Das Interkulturelle Selbst-Lern-Netz

Die Konsequenzen aus den obigen Überlegungen führen zwangsläufig zu einer Vision eines neuen Bildungskonzepts, indem die einzelnen Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Denn ihre Offenheit, Spontaneität, Unbefangenheit, natürliche Neugierde und ihr nimmersatter Tatendrang mit dem sie die Welt erkunden und schöpferisch gestalten wollen, erstaunt immer wieder. Spielerisch erproben sie sich selbst und trainieren ihre Potenziale instinktiv je nach ihren Präferenzen und Entwicklungsphasen. Die Phantasie und Kreativität, welche die Kinder im Spiel manifestieren, ist der Nährboden für die Entwicklung von Innovations- und Problemlösungskompetenz. Kinder und Jugendliche vermitteln gerne ihre Kompetenzen, wenn sie von etwas begeistert sind. Freude ist ansteckend. Kinder und Jugendliche strengen sich an, wenn sie den sinnhaften Kontext ihrer Aktivitäten erkennen. Kinder und Jugendliche benötigen dazu ein vielschichtiges Umfeld, welches animierend, nicht belehrend, schlummernde Anlagen weckt und fördert.

Das optimale Umfeld ist das reale Leben, bestehend aus den unterschiedlichsten Lebenswelten. Diese nehmen die interessierten Kinder und Jugendliche auf und lassen sie an ihrem Geschehen adäquat teilnehmen. Ziel ist es, die Kultur einer Gesellschaft so zu gestalten, dass sie wie früher in der Lage ist, Kinder und Jugendliche wieder selber lebensnah zu fördern, indem sie diese in ihr Geschehen adäquat integrieren. Das ist das Ziel des INSEL-Netzes. Es geht also nicht um die Errichtung einer neuen Bildungsinstitution.

3.1 Das INSEL-Netz

Afrikanische Kinder mit selbst gebauten Bauklötzen.

Das INSEL-Netz ist eine Bildungsstruktur in der Phänomene, welche die Lernprozesse effektiv und synergetisch gestalten, systematisch zusammengefasst sind. Es ist ein Orientierungssystem für Bildungsnomaden, die auf dem Weg zur vollen Entfaltung ihrer Persönlichkeit sind.

In der Praxis gehen wir folgendermaßen vor:

Es gibt viele junge ivorische Schulabgänger, die trotz ihrer Interessen und Begabungen, keine angemessene Arbeitsstelle finden. Daher bieten sie sich als ideale selbständige INSEL-Netz-Akteure an. Ihre individuellen Interessen und Veranlagungen sind die Basis ihrer zukünftigen Aktivitäten. Um mit diesen jungen Leuten Kontakt aufnehmen zu können, arbeiten wir z.B. mit Kirchengemeinden. Nach einer kurzen Präsentation des Konzepts, wird den Interessenten der Sinn des INSEL-Netz-Projekts und die aktive Teilnahmemöglichkeit dargestellt. Es geht anfangs darum zu zeigen, wie kooperative Selbstlern-Prozesse mit Hilfe von einfachen Spielmitteln initiiert werden können.

Konkrete Beispiele veranschaulichen das Konzept. Kinder bekommen z.B. ohne jegliche Hinweise einige Bauklötzchen. Obwohl meist unbekannt, animieren diese die Kinder, damit zu bauen. Sie wecken und fördern kreative Potenziale im Bereich des systematischen Konstruierens.

Afrikanisches Dorf beim bauen von Bauklötzen.

Diese Bauklötzchen werden dann vor Ort nachgebaut und von den jungen INSEL-Netz-Akteuren verkauft und/oder gegen ein Honorar in Kindergruppen eingesetzt. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass die Investitionen für die jungen Leute so gering wie möglich sind, und sie möglichst schnell in der Lage sind, selbständig ihren Lebensunterhalt mit ihrem neuen jungen Unternehmen zu verdienen. Erfahrungsgemäß ist das bereits nach einigen Tagen möglich.

Das folgende Symbol soll die Funktionsweise des INSEL-Netzes veranschaulichen:

Um die notwendige Vielfalt der Fördermöglichkeiten zu erweitern, hat EDEJU junge freiwillige Deutsche in die Côte d'Ivoir geschickt. Die Vorbereitung dieser jungen Leute besteht hauptsächlich darin, ein Frühförderungsprojekt zu entwickeln, welches den Neigungen der Bewerber entspricht.

Durch die Hinzuziehung der Freiwilligen war ein weiteres Ziel zum INSEL-Netz hinzugekommen. Es ist die Förderung dieser jungen Deutschen im Hinblick auf eine selbständige und selbstverantwortliche Tätigkeit in einer fremden Kultur. Das haben sie bisher in der Schule nicht gelernt und ist daher eine Herausforderung, die den Einzelnen nicht nur stärkt, sondern auch wichtige Erfahrungen für das Leben in einer globalisierten Welt vermittelt.

Ihre Aufgabe besteht darin, mit den einheimischen INSEL-Netz-Akteuren ein typisches INSEL-Netz-Projekt zu entwickeln und zu realisieren. Meist geht es zunächst darum, pädagogisches Spielzeug mit einfachen Mitteln herzustellen, zu vermarkten und in Kindergruppen einzusetzen.

Wenn sich Kinder nun in speziellen Bereichen als begabt erweisen, werden Beziehungsnetze entwickelt, die den Kindern die Möglichkeit bieten, bezüglich ihrer Interessen, die jeweiligen Lebenswelten der Erwachsenen kennen zu lernen. Hier schließt sich nun der Kreis, denn die Vorbilder stimulieren den spielerischen Nachahmungstrieb, der sie motiviert, sich diese Welt, die sie nun immer besser kennenlernen, zu erschließen.

Die einzelnen Kinder haben aber die Möglichkeit, auf die oben beschriebene Weise, je nach ihren Interessen, alle Lebenswelten kennenzulernen und zu erschließen, so dass sie ihre Potenziale ganzheitlich entwickeln können.

Das folgende Symbol soll die Funktionsweise des INSEL-Netzes veranschaulichen:

Das INSEL-Netz Symbol.

Jeder Kreis stellt alle Lebensbereiche dar, die in Natur (grün), Technik (blau), Organisation (rot) und Kultur (gelb) aufgeteilt sind.

Der obere linke Kreis enthält ein Symbol, welches das individuelle Potenzial eines Menschen darstellt, welches zur vollen Entfaltung gebracht werden soll.

Der rechte obere Kreis stellt ein Kompendium dar, in dem die Selbst-Lern-Mittel systematisch erfasst sind. Ausgehend vom Zentrum sind sie stufenweise vom niedrigsten Niveau für die ersten, bis zu den höchsten Selbst-Lern-Schritten angeordnet.

Die Verbindung zwischen den oberen Kreisen stellt den Selbst-Lern-Prozess dar. Dieser findet also zwischen einem bestimmten Interessenbereich, der gerade aktuell ist, und dem dazugehörigen Selbst-Lern-Mittel statt.

Der untere rechte Kreis enthält eine Spirale. Diese symbolisiert die Begleitung des Selbstlernenden durch eine Logistik, die darauf achtet, dass alle Potenziale auf allen Niveaus, mit Hilfe der Selbst-Lern-Mittel "just in time" geweckt und gefördert werden. Just in time bedeutet, dass die Förderung dann geschieht, wenn die Potenziale "in Blüte" stehen und auf Befruchtung harren.

Der untere linke Kreis stellt die Berater bzw. Bildungsguides dar. Sie beantworten die Fragen, die aufgrund einer denkbaren Blockade des Selbst-Lern-Prozesses entstehen und geben Orientierungshilfe zur Vernetzung in den jeweiligen Lebenswelten.

Der mittlere Kreis beinhaltet die ganze Welt, die in die diversen Lebenswelten aufgeteilt ist. Der Einzelne befindet sich nun in einer dieser Welten auf einem ihm angemessenen Niveau und begegnet real oder virtuell, Gleichgesinnten. Gemeinsam erarbeiten sie sich das Wissen und die Kompetenzen durch ihre Aktivitäten. Diejenigen, die sich auf gleichem Niveau befinden, bewirken eine Konkurrenzsituation. Diese Herausforderung führt zur rascheren Kompetenzaneignung beider Seiten. Diejenigen, die sich auf höherem Niveau befinden, dienen als Vorbild und können bei Problemen Tipps geben, um ins stockengeratene Selbst-Lern-Prozess wieder in Gang zu bringen.

Dieses Konzept befindet sich im Aufbau. Unsere Möglichkeiten der Umsetzung im größeren Stil sind sehr begrenzt. Überlegungen, wie man dieses Konzept wirkungsvoller umsetzt, sind natürlich immer präsent. Jede Unterstützung diesbezüglich ist willkommen. Die Resultate ermutigen uns immer aufs neue, daran weiterzuarbeiten.

4 Nächste Schritte

Zur Zeit befinden sich einige Freiwillige in Ghana, um dort ebenso die Grundlagen zum Aufbau eines weiteren INSEL-Netzes zu legen. Eine neue Aktion wurde im November 2001 in Denzlingen, dem Sitz von EDEJU, gestartet. Ebenso sind die Planungen für ein INSEL-Netz in Strasbourg in Frankreich fortgeschritten.

Die Organisation dieses komplexen Bildungsprozesses benötigt eine spezifische Logistik, damit die Potenziale rechtzeitig und mit den adäquaten Mitteln geweckt und gefördert werden können. Dazu dient eine Software, die online allen Interessenten zur Verfügung gestellt werden soll. Dieses Programm ist eine übergeordnete virtuelle Struktur, die wie eine ständig aktualisierte Landkarte dem Einzelnen hilft, seine eigenen Selbstbildungsrouten zu planen. Ebenso ermöglicht diese Landkarte, sich mit Gleichgesinnten unterschiedlichen Alters, Kompetenzniveaus regional, national und international zu vernetzen und zu kooperieren.

5 Resümee

Bildung wird zu einem selbstbestimmten und lebenslangen Prozess, der ohne Brüche (Ausgrenzung in Kindergarten oder Schule) von der frühen Kindheit ins komplexe Leben der Erwachsenen führt. Dadurch, dass die Entfaltung der Persönlichkeit ganzheitlich geschieht, ist der Einzelne in der Lage, je nach seinen entwickelten Kompetenzen, in mehreren Feldern engagiert, kreativ und professionell aktiv zu wirken.

Fremdbestimmung und Uniformierung sind aufwendige und somit teure Prozesse, zumal sich die gesunde Natur des Menschen instinktiv dagegen wehrt. Hilft man dem Einzelnen hingegen, seinen sich wandelnden Interessen systematisch nachzugehen, dann erreicht man nicht nur höhere Erfolge, sondern verringert den pädagogischen Aufwand drastisch.

Das Verharren in traditionalistischer Erziehung und im Glauben, dass Kindergarten und Schule die adäquaten Institutionen für die menschliche Entwicklung seien, produziert minderwertige Kopien statt Originale. In diesem Sinne sprach Prof. Dr. Gosbert Byamungu. Er wies auf die wichtige Bedeutung des frühen Bastelns als Grundlage für die Kreativität und das Engagements des Ingenieurberufs hin. Denn ohne diese frühen Aktivitäten könne man kein passionierter und motivierter Ingenieur werden. Dies ist seine Erfahrung aus Afrika. Dort hat man die Bedeutung des kindlichen kreativen Spiels nicht kultiviert. Statt dessen trimmt man lediglich im Hinblick auf die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen. Ließe man Kindern hingegen den Freiraum, sich nach ihrem Gusto zu verhalten und sie dabei zu systematisch fördern, würden sie sich als Originale entwickeln.

Ein radikales Umdenken ist notwendig. Deshalb hat es mich gefreut, dass Professor SME Bengu, Botschafter und ehemaliger Bildungsminister aus Süd-Afrika, in diesem Sinne in Loccum von der Entfremdung und Anpassung im Bildungswesen gesprochen hat und willens ist, eine radikale Reform des Bildungswesens in seinem Land einzuleiten.

Die Gesellschaften, die diesen Umdenkungsprozess wagen, können eines Tages die Vorreiterrolle für die ganze Welt übernehmen. Wird Afrika als erstes diesen Schritt riskieren?

Quo vadis Afrika?

Gemälde von Sambo aus Korhogo.

Dieses Bild stammt von meinem lieben Freund Sambo aus Korhogo/Côte d'Ivoire.